Erfahrungsbericht Nagra Phono Classic
Das Oktoberfest bei MY SOUND ist auch schon wieder vorbei und wir haben den zweiten „Lockdown“. Eigentlich kein Grund zur Freude, wenn da nicht so viele neue analoge Schätze wären, die Schallplattenhören zu einem Trost für „einsame“ Stunden machen. Zum einen sind es die überragenden Tonabnehmer von X-Quisite und zum anderen ist es die neue Classic Phono von Nagra. Letztere haben ich nun ausgiebig an verschiedenen Tonabnehmern gehört (X-Quisite ST, EMT JSD VM und Ortofon Windfeld Ti Heritage) und so kann ich hier einen ausgiebigen Erfahrungsbericht über Nagra’s jüngstes Familienmitglied schreiben.
Was lange währt….
Wie lange haben Nagra Fans auf diese Phono Classic warten müssen… eine gefühlte Ewigkeit. Das liegt daran, dass sich Nagra nicht an Erscheinungstermine und nicht an Produktzyklen hält, sondern Neuheiten verschickt, wenn diese den klanglichen Vorstellungen der Nagra Ingenieure entsprechen. Es erfordert zwar jede Menge an Geduld, ist aber letztendlich das was Nagra auszeichnet. Also kam nach einer gefühlten Ewigkeit vor ca. 4 Wochen die neue Classic Phono als Ersatz für die lange im Dienst stehende Nagra VPS – Nagra’s einzige Phonoentzerrung. Die VPS war auch Nagra’s letztes Produkt im verkürzten Gehäuse, denn die Classic hat eine Länge, wie auch alle anderen Komponenten in der Classic Serie. Und die braucht diese auch, denn das Innenleben der Phonoentzerrung hat mit dem der VPS so rein gar nichts zu tun. Jeder Quadratmillimeter ist vollgepackt mit Technik und erinnert mit den großen Kondensatoren eher an eine HD Vorstufe im Aufbau.
Nicht wirklich neu ist die überragende Verarbeitung der Schweizer Elektronik. Denn die ist erwartungsgemäß wie bei allen Nagra Produkten überragend und lässt das Herz eines in Technik verliebten – wie mich – maximal schlagen: Unvergleichliche Schweizer Präzision! Alleine den Drehregler von OFF auf MUTE / PHONO 1 und PHONO 2 möchte man den ganzen Tag am Liebsten bedienen.
Die Nagra Phono Classic Handhabung
Die Ausstattung und die Einstellungen der neuen Phono Classic haben sich zur VPS kaum geändert. Zwei Phoneingänge stehen zur Verfügung (beide mit RCA Buchsen) und beide können beliebig von MM auf MC eingestellt werden. Letzteres kann natürlich mit beigelegten Widerstandswerten exakt angepasst werden. Im Standard Umfang werden sechs Widerstandswerte ausgeliefert (100yxxxx). Diese sind auf einer kleinen steckbaren Platine. Zur Anpassung der Widerstände verzichtet Nagra aus klanglichen Gründen auf „Schalter“ oder „Mäuseklaviere“. Das macht ein Wechseln etwas umständlich, denn dazu muss die obere Abdeckung abgeschraubt werden. Direkt an den Eingängen der Phonostecker sitzen die jeweiligen Platinen für PHONO 1 und PHONO 2 zur exakten Anpassung an die jeweiligen Tonabnehmer. Dort sieht man auch, dass Nagra im Eingang des PHONO 1 zwei kleine Übertrager eingebaut hat (dazu später noch mehr). Somit erübrigt sich jegliche Einstellung auf PHONO 1, denn der Eingang ist mit seinem Übertrager auf MC ausgelegt und braucht damit auch keine Impedanzanpassung. Natürlich lässt sich der Übertrager auch ausbauen und damit beide PHONO Eingänge pur – ohne Übertrager – betreiben, genauso wie (gegen Aufpreis) sich PHONO 2 mit eine Nagra Übertrager ausstatten lässt.
Ausgeliefert wird der PHONO 2 Eingang mit einer MM Einstellung. Wer das ändern möchte zieht ganz vorsichtig die senkrecht stehende Platine an der Rückseite (direkt hinter den RCA-Eingangsbuchsen) diese senkrecht nach oben aus dem Steckplatz (kein Entfernen von Schrauben notwendig). Jetzt kann man sehr entspannt alle Einstellungen vornehmen. Dazu müssen Schieberegler (hier verwendet Jumper und auch keine Schieberegler) auf A oder B gestellt werden. Das ist im Manual etwas schwierig zu begreifen und es sollte auch aufgepasst werden (!), dass die Nummerierung der beiden Jumperbänke asynchron ist. Also die 1 ist jeweils innen und die 6 jeweils außen.
- A = symmetrische (für Übertrager geeignet) B = asymmetrisch
- A = Widerstandsplatine für Anpassung vorhanden, B = nicht vorhanden
- A = MC, B = wenn nicht MC
- A = MM B = wenn nicht MM
- A = interner Übertrager benutzt, B = interner Übertrager nicht benutzt
- A = 47kOhm Anpassung, B = keine 47kOhm Anpassung
- A = Mono, B = Stereo
Nagra und das Netzteil
Der Vorgänger der Nagra Phono Classic war die VPS. Diese benötigte ein externes Netzteil und hierzu gab es zwei Möglichkeiten: das kleine und bezahlbare ACPSII oder das große externe MPS, was nun mit dem 13.500,00 Euro teurem Classic PSU ersetzt wurde. Der Unterschied zwischen dem ACPSII und einem MPS war deutlich zu hören und machte die Phonostufe fast doppelt so teuer. Nun hat die neue Phono Classic ein Netzteil eingebaut und Nagra verspricht damit schon eine überragende Klangqualität. Ich habe daher alle Hörsitzungen bisher ohne das teuerere Classic PSU gemacht, denn die Phonoentzerrung hat auch ohne PSU schon einen stolzen Preis und sollte auch ohne „fremde Hilfe“ auf höchstem Niveau spielen.
Wo ist der Brumm?
Wir haben viele Phono-Verstärker und jedes Mal wenn ich einen in ein vorhandenes System integriere stellt sich mir die Frage: Wie stark ist der Brumm? Weg ist er nie, man kann ihn nur auf einer „Nerv-Skala“ einordnen. Besonders die heutigen modernen MC-Tonabnehmer mit geringen Ausgangspegeln sind schwierig zu betreiben, d.h. den nervigen Brumm auf ein geringes Maß zu bekommen. Manchmal helfen auch die raffiniertesten Masse-Verbindungen nichts.
Schon nach wenigen Sekunden, nachdem ich den Nagra angeschlossen hatte, dachte ich, es kann kein Ton kommen, denn von dem von mir so gehassten Brummen war nichts zu hören. Alle Anschlüsse überprüft, alle waren korrekt, die Nadel abgesenkt: Es kam Musik! MC-Übertrager klingen nicht nur gut, sie verstärken das Signal und sorgen in der Regel auch für weniger Brumm wegen ihrer Entkopplung. Aber die externen MC-Übertrager leiden oft auch wieder an furchtbaren Einstreuungen und machen den ganzen Vorteil damit wieder rückgängig. Man rückt die Dinger oft Millimeter für Millimeter um einen hörbar „erträglichen“ Platz zu finden.
Anscheinend haben die Nagra Ingenieure einen perfekt abgeschirmten Übertrager konzipiert und in ihre neue Phonostufe integriert. Mit Übertragern haben die Schweizer anscheinend nun extrem Erfahrung, denn solche setzt Nagra auch in Vorverstärkern und D/A Wandlern ein. Auf jeden Fall habe ich noch nie eine Phonostufe angeschlossen, die mit so geringem Brummen, Rauschen und Störgeräuschen auf Anhieb Freude bereitet. Also beste Voraussetzungen für ein großartiges Klangerlebnis, denn Brummschleifen und Störgeräusche sind nicht nur lästige Nebengeräusche, sondern auch erheblich Klang verschlechternde Voraussetzungen.
Auf die Plätze fertig los…
Auf ein neues Nagra Produkt wartet man so ziemlich ein halbes Jahrzehnt. Auf die neue Phonovorstufe der Classic Linie hat es schon ein volles Jahrzehnt gedauert. Da kann man sich die Spannung vorstellen, die dieses edle Schweizer Präzisionsgerät bei einem Hifi-Enthusiasten hervorruft. Die Spannung wird von den ersten Tönen durch blankes Entsetzen verdrängt. Man kann im ersten Moment gar nicht von den üblichen High End Floskeln, wie „detailliert“, „präzise“, „musikalisch“ oder Anderem reden. Es ist anders, völlig anders. Ich bin kein reiner Analog Verfechter, Einer der nur die Schallplatte gelten lässt und ohne Vinyl und glimmenden Röhren gar nicht Musik hört. Ich habe schon so viele „analoge“ Anlagen gehört, die einfach nur fürchterlich klangen. Und ich kenne jede Menge Plattenspieler in teuren Anlagen, die völlig de-justiert sind oder Tonabnehmer, Tonarm und Laufwerk gar nicht miteinander harmonieren und somit von Musik wesentlich weiter entfernt sind, als gute digitale Quellen. Analoge Wiedergabe hat seine emotionalen Vorzüge, ist aber auch nicht zwangsweise selbstverständlich. Analoger Zauber mit weichen Bässen, fehlendem Rhythmus oder anderen Unzulänglichkeiten, – macht keinen richtigen Spaß!
Und jetzt zu dem völlig „Anderem“ der Nagra: Das hat gar nichts mit solchen „analogen“ Unzulänglichkeiten zu tun. Das ist nicht Analog und nicht Digital, das ist Musik! Nach ca. 10 Schallplatten kann ich immer noch nicht glauben, dass in dieser Phonentzerrung Röhren eingebaut sind. Die Schnelligkeit, dieser souveräne Bass, diese Klarheit und mega-mega-mega fließende Musik habe ich von noch keiner Phonovorstufe in dieser Klasse gehört, weder Transistor, noch Röhre. Die Nagra VPS als Vergleich heranzunehmen ist lächerlich, deren angenehmer und warmer Klang ist eher dieses typisch Analoge und hat nicht annähernd etwas von dieser Lifehaftigkeit, ungebremster Dynamik und Transparenz dieses Nachfolgers. Egal, ob ich einen Thales mit EMT Tonabnehmer oder einen SME30/12A mit X-Quisite Tonabnehmer angeschlossen habe, den Unterschied hat die Phonentzerrung von Nagra gemacht! Es sind nicht nur die warmen Töne und die fließende Musik die die Nagra’s Classic Phono aus dem Vinyl entlockt, es ist dazu eine Stimmigkeit, eine Durchhörbarkeit und grenzenlose Feindynamik die Hifi von Musik unterscheidet. Diese Phonovorstufe ist Musik, pure Musik und selbst für mich das seltene Erlebnis: Ich will nicht Testen, ich will Musik hören!
Bitte Nagra bewahre mich vor Schlimmeren…
Wenn überhaupt ist die wesentlich teurere Soulution 755 in der Lage so Musik zu transformieren. Aber wir reden hier von einer Nagra Classic Phono. Dazu gibt es ja noch ein Nagra PSU und wenn ich mit den Gedanken weiter schweife, dann haben wir ja noch Nagra HD Komponenten. Wenn ich so meine Schallplatten vor mir sehe, kann ich es kaum erwarten so eine Nagra HD Phono auszupacken. Wenn ich aber so an mein Bankkonto denke, dann liebe Nagra Ingenieure lasst Euch bitte noch Zeit!